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Forschungsergebnisse

Wir begreifen Parlamentsdebatten als demokratische Kontroversen, die auch als solche analysiert werden sollten.[1] In der politikwissenschaftlichen Demokratie- und Parlamentsforschung waren Analysen von Parlamentsdebatten jedoch lange eine Randerscheinung. Daraus ergibt sich eine Forschungslücke, die wir im Rahmen des Projekts einerseits ideengeschichtlich rekonstruiert und erklärt haben[2] und andererseits über die Einbindung verschiedener sozialwissenschaftlicher und linguistischer Ansätze partiell geschlossen haben.[3]

Für die Analysen haben wir ein demokratietheoretisches Konzept entwickelt, das den Konflikt als zentrales Moment parlamentarischer Debatte stark macht. Um den Konfliktcharakter zu untermauern, wurde ein radikaldemokratischer Zugang im Anschluss an Jacques Rancières Arbeiten gewählt und als analytisches Konzept aufbereitet.[4] Dieses Konzept von Demokratie legt seinen Fokus auf Rhetorik und erlaubt eine normative Bestimmung von Demokratie als Sprachereignis, in dem (demokratische) Gleichheit zur Richtschnur wird. Schließlich ermöglicht dieses emanzipative Demokratieverständnis eine demokratietheoretische Qualifizierung parlamentarischer Debatten bzw. Debattenbeiträge anhand des Umgangs mit antisemitischer Rhetorik.

Bezogen auf die These des Schwindens von Antisemitismus als politische Strategie im Parlament als Ort der Definition des öffentlich Sagbaren bestätigte sich, dass er als „Generalstrategie“ nicht mehr funktioniert. Allerdings stellte sich heraus, dass Antisemitismus als politische Strategie in der unmittelbaren Nachkriegszeit durchaus noch verwendet wurde. Eine Spaltung in „Emigranten“ und „Hiergebliebene“ in der parlamentarischen Rhetorik diente dazu, das Lagerdenken zu überblenden,[5] die Idee der Konkordanz-Demokratie zu festigen und das Modell der Sozialpartnerschaft zu verankern.[6] Ab Mitte der 1950er Jahre wurde antisemitische Rhetorik zunehmend problematisch und funktionierte als strategisches Mittel kaum noch. Das zeigt, dass die Tabuisierung von Antisemitismus im öffentlichen Diskurs erst allmählich wirksam wurde.

Obwohl also der Antisemitismus als politische Strategie im Parlament zusehends diskreditiert wurde, konnten wir Formen des Umgangs mit Antisemitismus identifizieren, die dennoch strategische Bedeutung haben:

1. Das Verschweigen und/oder Verharmlosen der Existenz von Antisemitismus in Gesellschaft und Politik: Diese Strategie wurde vorrangig gegenüber dem „Ausland“ (bzw. den Alliierten) verfolgt und basierte auf einem groß-koalitionären Konsens. So wurden antisemitische Vorurteile beispielsweise im halb-öffentlichen Raum des Ministerrates 1946 noch offen ausgesprochen, während sie in Plenumsdebatten – also vor den Augen der Alliierten – eher verdeckt und unterschwellig artikuliert wurden. [7] Einzelne Fälle antisemitischer Äußerungen von Parlamentatier_innen und andern politischen Repräsentant_innen in der Öffentlichkeit belegen, dass Antisemitismus als „private Haltung“ lange toleriert wurde.[8] Die Forderung, dem „Ausland“ nicht den Eindruck zu vermitteln, in Österreich gebe es Antisemitismus zieht sich durch die gesamte Zweite Republik und kam nicht selten gegen diejenigen zur Anwendung, die gegen Antisemitismus auftraten.[9]

2. Eine weitere Strategie besteht darin, politischen Gegner_innen Antisemitismus vorzuwerfen (ob begründet oder nicht), um sie als demokratische Kraft zu delegitimieren oder um eigene Anliegen durchzusetzen. So kann beispielsweise der Vorwurf der „Verhetzung“ mit NS-Propaganda und Antisemitismus verknüpft werden, um so den politischen Kontrahent_innen undemokratische Gesinnung zu unterstellen.[10] Ähnlich versuchte die Opposition während der ÖVP-FPÖ-Regierung, eine antisemitische Äußerung (Jörg Haider über Ariel Muzicant) in einer Parlamentsdebatte zum zentralen Thema zu machen, wohl auch mit dem Ziel den Druck der EU auf die Regierung zu verstärken.[11]

3. Auch eine ostentative Distanzierung von Antisemitismus oder gar ein Umschlagen in „Philosemitismus“ kann als Strategie zur demokratischen Selbstpräsentation und Ablenkung von Antisemitismusvorwürfen eingesetzt werden. Statt den „Emigranten“ Unfähigkeit zur Heimatliebe und Feigheit vorzuwerfen, lobt man sie ab den 1980er Jahren ob ihrer „Anhänglichkeit“ an Österreich und ihres heldenhaften Einsatzes für dieses Land.[12]

4. Schließlich dient auch eine aggressive Abwehr des Antisemitismus-Vorwurfs als wirksame Strategie, hier im Sinne einer Gegenstrategie, die die Grenzen des Sagbaren wieder ausweiten und tendenziell antisemitische Inhalte wieder als zulässig erscheinen lassen will. D.h. diejenigen, die einen Antisemitismusverdacht gegen einen politischen Gegner äußern, werden im Umkehrschluss als undemokratisch attackiert. Es wird ihnen unterstellt, sich nicht mit den politischen Argumenten zu befassen, sondern eine (vermeintlich demokratisch legitime) Haltung moralisch abzuwerten. Z.B.: „Nazi- und Faschismuskeule“.

Bezogen auf die Entwicklung der Demokratie in Österreich zeigte sich, dass der Umgang mit Antisemitismus im Parlament regelmäßig mit Debatten um den Zustand der Demokratie verbunden ist. Somit bestätigt sich die Annahme, dass die Untersuchung von Antisemitismus auch Aufschlüsse über die demokratische politische Kultur des österreichischen Parlamentarismus erlaubt. Anhand der Analyse von Plenumsdebatten können Verschiebungen der Grenzen des öffentlich Sagbaren nachgezeichnet werden.

Zu Beginn der Zweiten Republik (1945 bis Mitte der 1950er Jahre) finden sich im Parlament noch relativ häufig antisemitische Äußerungen, die nur wenig kodiert sind, und auch sogenannter „Nazi-Jargon“ wurde manchmal unreflektiert und unwidersprochen verwendet. Dies änderte sich spätestens in der politischen Umbruchsphase der 1960er Jahre mit der Krise der Koalition und der ersten Alleinregierung (ÖVP) im Jahr 1966. Hier wurden antisemitische Äußerungen im Parlament sanktioniert und tendenziell als undemokratische Haltung interpretiert.[13] Für die frühen 1970er Jahre lässt sich belegen, dass das Antisemitismus-Tabu im Nationalrat bereits wirksam war. So führte ein antisemitischer Zwischenruf 1972 zum Eklat im Plenum.[14] Die Sprach-Sensibilisierung im Parlament steht in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Veränderungen. Dies betrifft auch die parlamentarische Selbstreflexion in Bezug auf Nazi-Jargon und kodierten Antisemitismus, die ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre die Grenzen des Sagbaren deutlich enger zog. Dies erforderte in weiterer Folge zunehmend die rhetorische Strategie der „kalkulierten Ambivalenz“. Dies meint im Anschluss an Josef Klein bzw. Ruth Wodak den Einsatz mehrdeutiger Rede, um die Grenzen des Sagbaren auszuloten. Beobachtbar wird zudem das strategische Überschreiten der Grenzen z.B. in der Selbstinszenierung als „Tabubrecher“.

Demokratieentwicklung zeigt sich auch in impliziten und expliziten Kontroversen um den Begriff Demokratie. Deshalb wurden im Projekt konkurrierende Demokratieverständnisse der Parlamentarier_innen und insbesondere die damit verbundenen Konstruktionen des Volkes sowohl als Demos als auch als Nation[15] in ihrer rhetorischen Verfasstheit untersucht. Dabei zeigte sich, dass das demokratische Ideal nicht-essentialistischer Pluralität und Gleichheit in den Parlamentsdebatten nur selten erfüllt wird und insbesondere Juden und Jüdinnen nicht gleichwertig eingebunden wurden.[16]

Die Analysen machen zudem deutlich, dass der Ausschluss aus dem österreichischen Demos rhetorisch oft über intersektional verknüpfte Kategorien erfolgt. Häufig kommen Verständnisse von Demos und Demokratie  in vergeschlechtlichten Metaphern zum Ausdruck, die vermeintlich essentielle Ungleichheiten festschreiben, damit Ausschlüsse legitimieren und Wir-Konstruktionen mit spezifischen Bedeutungen aufladen.[17] So wurden beispielsweise in Plenumsdebatten zum österreichischen Neutralitätsgesetz, „die Österreicher“ als besonders friedliebende Nation porträtiert, die dennoch die Maxime heroischer Männlichkeit erfüllt.[18] Antisemitische Stereotype, die bis etwa Mitte der 1950er Jahre relativ häufig geäußert wurden, basieren auf einem ebenso ethnisch homogenen wie maskulinistischen Volksverständnis, auf das rechte Parteien auch aktuell rekurrieren. Dieses wurzelt ideengeschichtlich im Schmittschen Politikbegriff als Freund-Feind-Unterscheidung, und es spitzt die implizite Verknüpfung der Zugehörigkeit zum Volk auf Waffenfähigkeit, d.h. Männlichkeit, zu.[19]

In den 1990er Jahren wurde in österreichischen Parlamentsdebatten zunehmend auf das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ Bezug genommen, was einen Nexus zwischen Demokratieverständnis und dem Konstrukt einer „politischen Mitte“ herstellte.[20] In diesem Zeitraum tauchte auch eine Definition von Demos auf, die diesen gegen eine Elite („Establishment“) in Stellung bringt und die repräsentative Demokratie in Frage stellt. Im Unterschied dazu flossen schon seit Beginn der 2. Republik auch Verständnisse von Demokratie und Demos in die Parlamentsdebatten ein, die einen partizipativen und geschlechtergerechten Aspekt in den Vordergrund rücken. Diese wurden unter anderem von jüdischen Remigrant_innen wie Marianne Pollak und Shella Hanzlik eingebracht.[21] Dies sind Beispiele, in denen ein emanzipatives Verständnis von Demokratie und Demos, das unserem analytischen Konzept zugrunde liegt, auch im Parlament artikuliert wurde.

Referenzen auf Projektpublikationen

[1] Löffler, Marion/Palonen, Kari (forthcoming): Editorial: Parliamentary debates: a style of democratic politics, in Parliaments, Estates and Representation.

[2] Bechter, Nicolas (forthcoming): The Parliament as a Research Object in German Political Science, in: Parliaments, Estates and Representation.

[3] Nicolas, Bechter (forthcoming): Politikwissenschaftliche Perspektiven auf Debattenanalysen am Beispiel von Antisemitismus im österreichischen Nationalrat, Univ.-Diss, Universität Wien.

[4] Löffler, Marion: Rancière in Parliament: Practicing Democracy in Plenary Debates, in: Parliaments, Estates, and Representation (in review).    

[5] Bechter, Nicolas (2017): Die Zweite Republik als Gründung der Parteien: Das Lagerstraßenkollektiv, in: Saskia Stachowitsch und Eva Kreisky (Hg.): Jüdische Identitäten und antisemitische Politiken im österreichischen Parlament 1861-1933, Böhlau: Wien, S. 276-282.

[6] Bischof, Karin (forthcoming). Austrian postwar consensus and anti-Semitism – rhetorical strategies, exclusionary patterns and constructions of the „demos“ in parliamentary debates, in: Journal of Language and Politics.

[7] Löffler, Marion (2017): Restitution: Wiedergutmachung übersetzt in die Sprachen der Alliierten. Antisemitische Konnotationen einer Begriffsdebatte, in: Katharina Prager und Wolfgang Straub (Hg.): Bilderbuch-Heimkehr? Remigration im Kontext, Arco Wissenschaft: Wuppertal, S. 203-216.

[8] Nicolas, Bechter (forthcoming): Politikwissenschaftliche Perspektiven auf Debattenanalysen am Beispiel von Antisemitismus im österreichischen Nationalrat, Univ.-Diss, Universität Wien.

[9] Bechter/Bischof/Löffler (forthcoming): Antisemitismus als politische Strategie und die Entwicklung der Demokratie: Debatten im österreichischen Parlament nach 1945. [10] Löffler, Marion (2016): Incitement. A Weapon of Militant Democracy and a Rhetorical Fighting Word. Paper presented at the ECPR General Conference, 7 – 10 September 2016, Charles University in Prague, Czech Republic.

[11] Bischof, Karin/Löffler, Marion (2016): Gendered Political Rhetoric of ‘Change’ in Austrian Conservative Right-wing ‘Wenderegierung’. Paper presented at the conference: Political Masculinities as Agents of Change, Interdisciplinary Conference, 9-11 December 2016, Anglia Ruskin University, Cambridge, UK.

[12] Bischof, Karin (2017): „Emigranten“ und die Konstruktion des österreichischen Demos in Parlamentsdebatten nach 1945, in: Katharina Prager und Wolfgang Straub (Hg.): Bilderbuch-Heimkehr? Remigration im Kontext, Arco Wissenschaft: Wuppertal, S. 191-202.

[13] Bechter, Nicolas/Bischof, Karin/Löffler, Marion (2017): Kontinuitäten und Brüche zwischen Erster und Zweiter Republik, in: Saskia Stachowitsch und Eva Kreisky (Hg.): Jüdische Identitäten und antisemitische Politiken im österreichischen Parlament 1861-1933, Böhlau: Wien, S. 269-275, hier S. 272f.

[14] Löffler, Marion/Bechter, Nicolas (2015): Anti-Semitism as a Political Strategy in the Austrian ‘Nationalrat’: The Critical Discourse-Historical Approach in Parliamentary Debate Analysis. Paper presented at the ECPR General Conference, Université de Montréal 26 - 29 August 2015.

[15] Löffler, Marion (2017): Österreichische Nation und Eigenstaatlichkeit, in: Saskia Stachowitsch und Eva Kreisky (Hg.): Jüdische Identitäten und antisemitische Politiken im österreichischen Parlament 1861-1933, Böhlau: Wien, S. 282-293.

[16] Bischof, Karin (2017): Juden und Jüdinnen als Teil des österreichischen Demos, in: Saskia Stachowitsch und Eva Kreisky (Hg.): Jüdische Identitäten und antisemitische Politiken im österreichischen Parlament 1861-1933, Böhlau: Wien, S. 293-300.

[17] Bischof, Karin/Löffler, Marion (2015): The gendered construction of the Demos: Parliamentary debates on the Integration of former Nazis into Austrian citizenship 1945 – 1929. Paper presented at the 4th European Conference on Politics and Gender, 2015 June 11-13 Uppsala, Sweden.

[18] Löffler, Marion (forthcoming): Neutral masculinity: an analysis of parliamentary debates on Austria’s neutrality law, in: Men and Masculinities.

[19] Bischof, Karin (forthcoming). Austrian postwar consensus and anti-Semitism – rhetorical strategies, exclusionary patterns and constructions of the „demos“ in parliamentary debates, in: Journal of Language and Politics.

[20] Bischof, Karin (2016): Loewenstein's Concept of 'Militant Democracy' and its Use. Austrian postwar parliamentary Rhetoric and its underlying Concepts of Demos and Democracy. Paper presented at the ECPR General Conference, 7 – 10 September 2016, Charles University in Prague, Czech Republic.

[21] Karin, Bischof/Löffler, Marion (2016): Das (frauen)politische Engagement jüdischer Remigrantinnen und Parliamentarierinnen – Marianne Pollak und Hella Hanzlik. Paper presented at the conference: The Migration of Political Thought. Austrian Jewish Socialist Émigré(e)s between Exile and Homeland (1933-1955), 14-15 November 2016, Verein für die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, Wien.      

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